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Der Blog
Von Authentizität und Altlasten
10. Dezember 2022 | Refresh | von Daniel Steigerwald
Hübsch ist sie, wenn sie strahlt.
Heute hab ich — mal wieder — mit einem Menschen gesprochen, für den Kirche nicht strahlt. Für den „Licht der Welt“ nur noch eine weitere von diesen leeren Hülsen ist, die Kirche um sich wirft. Gott, Liebe, Hingabe. Alles leere Begriffe eines orthodoxen Systems. Und die Weise, wie dieser Mensch in der Kirche diese Begriffe kennengelernt hat, waren pervertiert: Sie haben bei ihm das Gegenteil bewirkt von dem, was sie einmal bedeutet haben. Was für ein diabolisches Werk ist es, wenn ein Mensch aus Mangel an echter erfahrener Liebe den Begriff der Liebe gar nicht mehr gebrauchen kann.
Ich dachte ja immer: Jetzt, wo ich mich nicht mehr in evangelikalen Kreisen bewege, hat Kirche höchstens noch das Problem, dass sie bedeutungslos ist. Aber in den letzten 20 Monaten meiner Ausbildung zum Pfarrer bin ich einfach zu vielen Menschen begegnet, die tiefe Verletzungen durch die Großkirchen mit sich herumschleppen. Und ja: Ich nenne die bewusst zusammen — als ev. Kirchen verbergen wir selbst genug Dunkel in den eigenen Mauerritzen, dass es keinen Grund gibt, gelassen auf die kath. Schwester herabzublicken.
Wie viele Menschen gibt es wohl bei uns, die hineinsozialisiert sind in Formen sog. „orthodoxen“ Christentums. Die sich zwar vielleicht kognitiv anderen Weltbildern zugewandt haben. Aber im Herzen von ihren Wurzeln nicht wegkommen. Die Schulgefühle plagen, deren Ursache der Kopf nicht einmal mehr versteht, aber das Herz sie doch nicht loswird.
Was für Gottesbilder haben wir denn Menschen Jahrtausende eingeprügelt, dass der Begriff „Gott“ unsagbar wird? Und zwar nicht, weil Menschen sich in weltanschaulichen Vorstellungen da angegriffen fühlen: Sie sind einfach zu verletzt von dem, was alles „Gott“ genannt wurde, dass sie das gar nicht mehr aussprechen können.
Das Zeitalter der Authentizität ist vielleicht eine große Befreiung des westlichen Christentums. Vielleicht muss all das sterben, was wir an Hülsen und Phrasen, an „orthodoxen Glaubenssätzen“ mit uns herumschleppen.
Und erst dann können wir vielleicht bei dem anknüpfen, was dann an wirklichen Gotteserfahrungen im Schutt und Asche der Kirchen übrigbleiben wird.
Eigentlich bin ich ja ein Freund der De- und Rekonstruktion, der Kontextualisierungen und Neuinterpretationen. »Ich will eigentlich versuchen, wertvolles Altes umzuschreiben, weil ich den Schatz der Tradition nicht den Fundamentalisten, nicht den gewaltvollen Gelehrten überlassen will.
Aber vielleicht haben wir als Kirchen bisher viel zu wenig dem Elend ins Gesicht geschaut, das wir hinter uns angerichtet haben. Sexualisierte Gewalt ist gerade hochgebrochen. Aber ich vermute, dass wir noch viel anderes, viel Subtileres und noch weniger Greifbares als „Erbsünde“ mit uns herumschleppen.
Heute Nachmittag ist mir wieder bewusst geworden: Kirche wird bei vielen Menschen nicht als kraftvolles Salz und heilvolles Licht anfangen können. Die Mauern berührender Schönheit sind zu oft Schreckensmauern gewesen.
Vielleicht müssen wir bei uns als Kirche noch viel mehr hingeben, aufgeben, verlassen und sterben lassen, damit dann vielleicht Neues aufbrechen kann.
Und erst dann können wir vielleicht bei dem anknüpfen, was dann an wirklichen Gotteserfahrungen im Schutt und Asche der Kirchen übrigbleiben wird.
Daniel Steigerwald